Rede von Dr. Ralph Giordano
Ralph Giordano (* 20. März 1923 in Hamburg; † 10. Dezember 2014 in Köln) war ein deutscher Journalist, Publizist, Schriftsteller und Regisseur, der mit dem 1982 veröffentlichten, teilweise autobiografischen Roman Die Bertinis bekannt wurde. In seinen Werken setzte er sich vor allem mit dem Holocaust und dessen Folgen auseinander.
Rede von Dr. Ralph Giordano
zur Preisverleihung des ILI- „I like Israel“-Preises zum 2. Deutschen Israelkongress am 23. Oktober 2011 in Frankfurt am Main
Von Sde Boqer die geteerte Straße hinab in die bleiche Wüste Sin. Der Tag ist jung, nur ein erster Schimmer am rötlichen Horizont. Unten dann, über dem Canyon hoch am Himmel, ein Adlerpaar, fast ohne Flügelschlag. Dann hinein in die Schlucht. Nach einer Krümmung üppige Vegetation, Schilf, Pflanzen, die nur dort gedeihen, wo immer Wasser fließt. Am rechten Hang Steinböcke, kletterfest, eine Mutter mit ihren zwei Jungen. Das sanfte Rauschen von vorn jetzt stärker, schließlich alles übertönend – dann die Quelle, die biblische Oase, wo Mose und das Nomadenvolk der Israeliten auf ihrer langen Wanderung aus der ägyptischen Gefangenschaft ins Gelobte Land Kanaan ihre Herden getränkt haben – Ein Avdat!
Vor mir ein weit ausgebuchtetes, in Äonen geglättetes Natur-Bassin. Über dem Felsen droben ein einsamer Busch, Taubenschwärme hoch an den Kliffs, hier drunten das Wasser – süß, kühl und ewig. Ich sitze da und rühre mich nicht von der Stelle. Bis mich die heißen Scheinwerfer der Mittagssonne aus einem unsagbar blauen Himmel in den Schatten der Schlucht zwingt.
Erinnerungen an Israel.
Im schönsten Gästehaus der Welt – ich stoße die Tür zur Terrasse auf, und da liegt es vor mir, das alte Jerusalem. Die ottomanische Mauer, ein Ausschnitt wie aus einem Gemälde. Links die Straße von Hebron hoch; das Jaffa-Tor; rechts davor der Turm der David-Zitadelle; vor mir der Tempelberg. Und südlich davon, mit unbeschränktem Blick hinweg über die Senke des Toten Meers und Judäas Wüste, die Berge Moabs, dolomitrötlich.
Danke, Teddy Kollek selig, danke für dein Machtwort bei meiner Einquartierung in das hochmütige Mishkenot Sha` ananim. Und Dank für die immer freundlichen Mienen in Deiner Schöpfung, der ehrwürdigen „Jerusalem Foundation“, die heute hier auch vertreten ist.
Ich bin in Israel.
Über Bet Schemesch und Qiryat Gat, knapp östlich von Aschdod und Aschkelon, auf dem großen Highway nach Süden. Strotzende Blumenteppiche, zu beiden Seiten die kreiselnden, kristallenen, lichtdurchblitzten Fontänen der Feldbewässerung. Dann endlich, rund 50 km hinter Beer Shewa und 150 vor Eilat, der steile Abgrund, eine gigantische Treppe in das Untergeschoss des Negev, eine Art Keller der Erde – der Ramonkrater, Maktesch Ramon! Wie eine erstarrte Felsbrandung, ein geronnener Supertsunami – so der Anblick vom Fuße des Maktesch her.
Ich bin in Israel, und wovon ich spreche, ist meine Liebe zu ihm – wohlwissend, daß sich ihre Facetten nicht in landschaftlichen Bildern erschöpfen können.
Denn was wäre die Liebe ohne den Kern ihrer Glaubwürdigkeit, also ihre kritische Vermessung? Die aber, ein Geständnis, fällt mir oft genug schwer.
Ich bin hier an einen neuralgischen Punkt meiner Existenz angelangt – der Spannung zwischen der Liebe zu Israel und der Unteilbarkeit der Humanitas. Wo immer sie verletzt wird, es muß auf den Tisch. Bekanntlich wird Israel von niemandem schärfer kritisiert, als von Israelis selbst – ein Zeichen ihrer verfassungsrechtlichen Freiheit. Ich könnte mich also in bester Gesellschaft fühlen, und doch bauen sich innere Hemmungen auf.
Der Charakter des Konfliktes besteht darin, eine Kritik zu äußern, die der Liebe wehtut – denn könnte sie nicht den schlaflosen Vorurteilen, dem frenetischem Haß und blankem Antisemitismus weitere Nahrung geben? Wäre es also nicht besser, zu schweigen? Wer von uns kennt diesen inneren Widerstreit nicht, diese Versuchung der persönlichen Ehrlichkeit… Liegen sie doch nur allzu schmerzhaft offen, die „Probleme“, über die Israelis erbittert miteinander streiten, soziale, innen- und außenpolitische, von der Siedlungspolitik bis zum Wohnungsbau, von der Mauer bis zu militärischen Aktionen. Dazu das riesige, riesige Palästinerproblem, das so wenig wegdiskutiert werden kann, wie das nicht verhandelbare, sich jeder Kritik entziehende Existenzrecht Israels.
Israel müßte ja nicht von dieser Welt sein, wenn die Turbulenzen seiner Geschichte es ohne Blessuren und Widersprüchlichkeiten, einschließlich Menschenrechtsverletzungen, davonkommen ließen, so gnädig aber ist das Schicksal nicht.
Dennoch darf es keinen Zweifel geben, wie im Falle eines Falles die jeweilige Entscheidung auszufallen hat: für die Unteilbarkeit der Humanitas – das unaufkündbare Siegel des Bündnisses mit Israel.
Ein Freibrief für falsche Bundesgenossen, mir auf die Schulter zu klopfen, ist die Entscheidung nicht. Ich akzeptiere niemandes Kritik an Israel, der mir nicht nachgewiesen hat, was ihm und seiner Sache die Menschenrechte wert sind, daß also auch für ihn die Humanitas unteilbar ist. Ein Rasterdurch das, glauben Sie mir, schon mancher Christ, Muslim und Jude gefallen ist…
Mit der Legitimation dieser Entscheidung aber empöre ich mich über die Selbstverständlichkeit, mit der Israel hierzulande von großen Teilen der Öffentlichen und der Veröffentichten Meinung auf die Anklagebank gesetzt wird. Wenn ich sehe, wie in meinem Vaterland Deutschland von seiten einer bestimmten Political correctness auf mein Mutterland Israel eingedroschen wird, dann pfeife ich auf jede Rücksichtnahme, Defensive und aktik, dann packt mich die helle Wut, dann schreie ich Zeter und Mordio. Ich sehe rot, wenn ungefährdete Deutsche in Redaktionsstuben, Chefetagen und Talkshows Israel besserwisserisch belehren wollen, wie es sich schützen könnte vor einem Gegner, der mit der Losung „Ihr liebt das Leben, wir den Tod“ den stärksten aller menschlichen Triebe, den der Selbsterhaltung, außer Kraft gesetzt hat.
Hier wird ein Land verurteilt, wo jedermann jederzeit getötet, verwundet, Opfer von Terror, Raketen und Attentaten werden kann. Was, wenn hier jedermann jederzeit in Stücke gerissen und verstümmelt werden könnte, sich Deutsche also plötzlich in einer Situation befänden, die für Israelis Alltag ist? Da will ich Rufe nach dem „starken Mann“ und nach der Todesstrafe hören. Und die Demokratie, was wäre mit ihr? Daß dieser Kelch an der Bundesrepublik vorbeigegangen ist, kann morgen schon eine Idylle gewesen sein. Bisher hat sie großes Glück gehabt – die Kofferbomben von Köln haben nicht gezündet und die „Sauerlandbande“ ist rechtzeitig aufgeflogen. Möge der Status quo andauern, aber Garantien gibt es dafürnicht – Deutschland bleibt im Visier der Terroristen.
Es wäre heilsam, sich immer wieder klarzumachen, welche Gegner Israel gegenüberstehen, nämlich „bösartige und archaische Diktaturen“, wie der diesjährige Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, der Algerier Boualem Sansal, sie in seiner Paulskirchener Dankesrede ohne Umschweife beim Namen genannt hat. Ich komme nicht umhin, zu ergänzen, daß sich erschreckenderweise in der Anti-Israel-Phalanx neuerdings auch der türkische Ministerpräsident, Tayyib Recep Erdogan, besonders hervortut. Es ist derselbe Erdogan, der den Völkermord an den Armeniern 1915/16 im türkisch-osmanischen Reich auch nach hundert Jahren noch leugnet; Journalisten verhaften und ohne Anklage in Gefängnissen vermodern läßt; derselbe, der in Düsseldorf 2011 vor einer türkischstämmigen Menge mit den Worten „Ich bin auch Euer Präsident“ der Integration den Krieg erklärte; der Erdogan, der sich mit dem Stichwort „Gaza-Flottille“ bis an die Grenze politischer Brandstiftung immer offener zu einem Gegner, ja, zu einem Feind Israels gemausert hat. Und deren gibt es viele, nur allzu viele. Allen voran das Schreckgespenst Nr. 1, der Iran der klerikalen Ayatollagreise von Teheran samt Achmadinedschads mephistofelischer Teufelsfratze.
Zu keiner Zeit war Israel gefährdeter als in unserer. Und dennoch, auch wenn es die Quadratur des Kreises heraufbeschwört – es wird sich treu bleiben.
Dazu ein Wort.
So sicher, wie jede jüdische Intifada in jedem islamischen Land von den Machthabern schon am Abend des Tages, an dem sie ausgebrochen war, in ihrem eigenen Blut ertränkt worden wäre, so sicher hätte Israel die militärische Stärke, alle Blockadebrecher schon auf Hoher See abzufangen und auf den Grund des östlichen Mittelmeers zu schicken, und überhaupt mit jeder Art von Angriff rigoros fertig zu werden. Nur – Israel kann den Kampf nicht führen, wie seine Gegner ihn führen würden – das geht nicht. Und es war der hochrenommierte niederländische Publizist Leon de Winter, der es so auf den Punkt brachte:
„Das eigentliche Dilemma Israels ist, daß es könnte. Aber weil Israel Israel ist, kann es diese Mittel und Möglichkeiten nicht anwenden und einsetzen. Manchmal erscheinen die Vergeltungsaktionen als zu groß, in Wahrheit sind sie klein im Verhältnis zu den Möglichkeiten, die Israel hätte.“
Ja und dreimal ja! Daß Israel sich die Skrupel auch angesichts seiner skrupellosen Gegner bewahrt hat, das kommt aus seiner tiefsten Genesis, seinem innersten Ursprung. Wie seine großartige Unfähigkeit, sich trotz stärkster Gefährdung nicht von seinen demokratischen und humanen Prinzipien lösen zu können. Es ist der kleine Judenstaat, der an seinem Standort die großen Werte der Menschheit verteidigt, nicht seine Gegner. Warum begreift die Welt nicht, daß ihr Schicksal mit dem Israels, im guten wie im bösen, unlösbar verbunden ist?
Es war Rita Süßmuth, die Präsidentin des 11. Deutschen Bundestages, die vor zwanzig Jahren während eines Aufenthaltes in Israel den Schlüssel des Nahostkonfliktes in die Nußschale dieses nach wie vor hochaktuellen Satzes preßte: „Es wird kein Frieden in der Region sein, bis Israels Nachbarn aufhören, es zu bedrohen.“
Und wieder ja und dreimal ja! So lautet die Wahrheit – und ich bin auf dem Weg zu ihrem Symbol.
Von Norden, von Jericho kommend – rechts Ein Gedi, links das Tote Meer – taucht der Fels mit seiner nördlichen Spitze und der Rampe an seiner westlichen Flanke schon lange vorher auf. Bis es dann in seiner unbeschreiblichen Majestät vor einem liegt, das ungeheure Massiv, in Jahrmillionen von der Steinwüste Judäas wie von einem Meister der Fortifikation abgespalten, ein erhabenes Denkmal der Natur für die Tragödie des Menschen – Masada!
Vor diesem Auditorium brauche ich nicht zu erläutern, wo wir uns befinden. Nur dies: Hier, in dieser Abgeschiedenheit, hat sich eines der großen Dramen der jüdischen Geschichte zugetragen. Als die römischen Soldaten unter Flavius Silva, dem Kommandeur der berühmten 10. Legion, vor fast zweitausend Jahren nach langer Belagerung das Plateau stürmten, fanden sie 960 Männer, Frauen und Kinder vor, die sich selbst entleibt hatten, willens , lieber zu sterben, als sich zu ergeben.
Wann immer ich vor dieser geschichteschweren Bergzitadelle gestanden habe, stockte mir der Atem, standen sie wieder auf, die Bilder, geisterhaft und doch so realistisch, wie nur die Wirklichkeit sein kann: Ahasver – der Golem – der Schreckensruf des Schtetls „Es brennt, Brider, es brennt!“ – das Tarnwort „Endlösung“ – und Eli Wiesels lautloser Aufschrei in Vad Yashem: „Oh die Kinder…oh die Kinder…“
Angesichts dieser Dauerbedrohung seit der Antike, hat das moderne Israel einen Schwur getan, hat es einen historischen Umkehrschluß gezogen, und der heißt: „Masada wird nie wieder fallen, nie wieder, nie!“
Ja und tausendmal ja!
Universale Kulisse hinter allem ist das Drama eines Volkes, das die größten Nöte hat, auf Erden heimisch zu werden. Es ist wie ein Bann, wie ein Fluch, der auch vor dem neuen Staat auf altem Boden nicht haltgemacht hat, sondern im Gegenteil Juden am stärksten dort gefährdet, wo sie sich am sichersten wähnten, in Israel – nachdem sich die Jahrtausende alte jüdische Hoffnung „Nächstes Jahr in Jerusalem!“ vor der Klagemauer erfüllt hatte.
Mit diesem hochgefährdeten Land fühle ich mich unlösbar verbunden, eine Ankettung, die unabhängig ist von den Maßnahmen abwählbarer Regierungen. Die Liebe zu ihm ist die Hülle meiner Kritik an ihm, ihm gehört all meine Bewunderung und so manches noch, was mir im Halse stecken bleibt, wenn ich es sagen möchte, aber nicht kann, weil es mir die Sprache verschlägt. Ich bin überzeugt von der Kraft dieses Landes, ich baue auf seine Phantasie, seine Kreativität, seine gewaltige Vitalität und Überlebensfähigkeit. Daneben aber hockt in mir, ich muß es aussprechen, mit bleibender Unruhe und unausrottbarer Sorge, jene jüdische Angst, die mich, fürchte ich, bis an mein Ende begleiten wird und die einem Buch von mir den Titel „Israel, um Himmels Willen, Israel“ verliehen hat.
Lassen Sie uns die Bindung an dieses Land, an diesen Staat und seine Bewohner hegen, pflegen und immer wieder erneuern, so kostbar, wie sie ist.
Ich will meine Liebe zu ihm verstanden wissen als eine Energie, die Israel auch über meinen Tod hinaus erhalten bleiben soll.
Nun macht der 2. Deutsche Israelkongreß mich zum ersten Preisträger des neugeschaffenen Preise „ILI“. Ich nehme die Auszeichnung dankend an, verbunden mit allen jüdischen und nichtjüdischen Freunden Israels, besonders den deutschen, die es schon einmal leichter als heute hatten, sich zu Israel zu bekennen. Aber wir wissen, daß sie da sind, zuverlässige Bundesgenossen, auf deren Wort wir bauen können und die mit uns rufen: „I like Israel!“
Yes – I do, we do!