Ulrich Sahms Redebeitrag auf dem Israelkongress

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„Tsunami im Orient“

Ulrich Sahms Redebeitrag auf dem Israelkongress

 

Das Epizentrum des Erdbebens im Orient wurde in Tunis ausgemacht. Dort hat sich ein junger Mann wegen Schulden angezündet.

Eine gewaltige Tsunamiwelle schwappte mit zerstörerischer Naturgewalt nach Libyen und Ägypten. Mutmaßlich starben zehntausende Menschen. Über 50.000 allein in Libyen. Der Tsunami erreichte Syrien, wo inzwischen mindestens 3000 Menschen Opfer der Naturgewalten wurden. Das sind doppelt so viele wie während des zweiten Libanonkrieges und des Gazakriegs. Doch bisher berief die UNO noch keine Untersuchungskommission ein, um zu prüfen, ob jene 3000 Syrer eines natürlichen Todes starben oder Opfer von Verbrechen wurden. Und kein südafrikanischer Richter fühlte sich berufen, einen neuen Goldstone-Report zu verfassen.

In Ägypten geriet die „Volkswut“ derart außer Kontrolle, dass die Aufständischen auch die israelische Botschaft ins Visier nahmen. Weil die Attacke auf eine diplomatische Vertretung als schlimmer Verstoß gegen das Völkerrecht gilt, setzte die ägyptische Militärjunta wieder die alten Notstandsgesetze in Kraft. Es sei daran erinnert, dass die Militärs in Ägypten seit 1952 an der Macht sind und auch den Sturz des von ihnen wie eine Marionette gelenkten „Diktators“ Mubarak unbeschadet überstanden haben. Am 25. Januar brachen die Unruhen auf dem Tahrir Platz aus, wegen dieser Notstandsgesetze, aber nicht, um die Militärs zu entmachten. Nach 854 Toten ist also in Ägypten fast alles beim alten geblieben.

Bekanntlich schlägt ein Tsunami überraschend zu, wie damals in Ostasien. Dabei gibt es Technologien, Tsunamiwellen vorherzusehen. In Nordafrika, im Jemen, in Bahrein und Syrien, gibt es seit Jahrzehnten Wetterstationen, die auf Graswurzelebene tektonische Bewegungen vorhersehen könnten. Die professionellen Seismologen nennen sich Diplomaten, Geschäftsleute und Korrespondenten. Was die Diplomaten berichten, ist geheim. Geschäftleute interessieren sich nicht für Schwefeldünste, solange Öl und Geld fließen. Aber wo waren eigentlich die Korrespondenten, in Kairo, Amman und anderswo? Die hätten doch eigentlich riechen müssen, dass da etwas stinkt. Ihre Sensoren sind entweder veraltet oder aus Rücksicht auf ihre Gastländer ausgeschaltet. Denn wie lässt sich erklären, dass sie von Tunesien bis Pakistan immer nur einen einzigen Auslöser für Erdbeben ausmachten: die Siedlungen im Westjordanland und die „rechtsgerichtete“ Regierung in Jerusalem mit dem rechtsextremen Lieberman und dem „nationalenkonservativen“ Netanjahu an der Spitze. Der sozialistische Verteidigungsminister dieser nationalen Regierung wird tunlichst übergangen. National und sozialistisch in einem Wort passt nicht so toll.

Und neulich formulierte die Ostseezeitung: Die Regierung Netanjahu – gespickt mit ultraorthodoxen Politikern. Gespickt ist richtig, denn man nimmt ja nur ganz wenige Knoblauchzehen, wenn man einen Schweinebraten spickt. Und deshalb sitzen am riesigen israelischen Kabinettstisch mit 32 Ministern nur 5 Minister der frommen aber nicht ultraorthodoxen Schasspartei.

Die Ultraorthodoxen, Sie wissen schon, diese Typen, die wir doch alle bestens aus dem Stürmer kennen, jene mit den großen Hüten, den Schläfenlocken und den Kaftanen, also jene Ostjuden, die sitzen zwar in der Koalition, übernehmen aber keine Ministerposten. Sie sind a-politisch und mischen sich in die Siedlungspolitik überhaupt nicht ein. Wenn der Kommentator der Ostseezeitung die also als Spickwerk und letztlich als igitt bezeichnet, dann ist das selbstverständlich KEIN Antisemitismus, sondern NUR eine legitime Kritik an der Politik Israels. Bitte verzeihen Sie mir den absichtlich geschmacklosen Zynismus.

Sie kennen den Spruch eines amerikanischen Richters, dass er Pornografie nicht definieren könne, aber wisse, was das sei, wenn er die Bilder vor sich sehe.

Genauso kann man mit ein klein wenig Sprachkenntnis und historischem Wissen sofort erkennen, wo eine absolut legitime Kritik an Israel endet und wo klassischer Antisemitismus beginnt. Das kann eine fiese Bildauswahl sein oder wenn die halsstarrige israelische Regierung gemäß dem biblischen Prinzip Auge um Auge Vergeltung übt, wie es der jüdische Rachegott vorgeschrieben hat.

Bei Redaktionen gilt die Regel, fremden Politikern einordnende Adjektive beizufügen. Bei Merkel oder beim Papst käme jedoch niemand auf die Idee, sie als „hardliner“ zu bezeichnen in Sachen deutsche Interessen oder katholische Kirche. Offenbar gilt diese Regel nur für Israel. Assad wird von Spiegel und dpa respektvoll „Präsident“ oder „Staatschef“ bezeichnet, obgleich er doch der links-sozialistischen Baath-Partei vorsteht. Beim jemenitischen Präsidenten Saleh und anderen arabischen Herrschern behandeln die Tagesschau, das Neue Deutschland und sonstige Medien deren Ausrichtung nach rechts oder links wie ein Staatsgeheimnis. So kann der unbedarfte deutsche Medienkonsument gar nicht einschätzen, ob die rechts, also böse, oder links, also gut sind.

In Ägypten, Syrien und anderen Ländern (Israel natürlich ausgenommen) gab es vor dem arabischen Frühling keinerlei Verletzungen von Menschenrechten, keinerlei Diskriminierung (wie etwa „Apartheid“ in Israel) oder Verstöße gegen das Völkerrecht. Hüter der Menschenrechte wie Amnesty International oder Human Rights Watch lieferten nur wenig oder keine Kritik an den Zuständen in arabischen Ländern, während die Reports über Israel ganze Bibliotheken füllen.

Wo Rauch ist, muss auch ein Feuer sein, heißt der Bauernspruch, und wo kein Rauch ist, kann kein Feuer sein. Der ahnungslose deutsche Fernsehzuschauer oder Zeitungsleser muss also notgedrungen zum Schluss kommen, dass in Syrien, Libyen, Ägypten, Jemen, Bahrein und Tunesien bis vor wenigen Monaten nur glückliche Menschen in paradiesischen Verhältnissen lebten. Völlig unverständlich ist deshalb für mich und Otto-Normalverbraucher, wieso sich diese glücklichen Menschen plötzlich gegenseitig abschlachten und die ehrenwerten aber politisch farblosen „Präsidenten“ und „Regierungschefs“ sozusagen über Nacht zu „Potentaten“, „Diktatoren“ und „Unterdrückern“ geworden sind.

Mal ganz ohne Zynismus stellt sich die Frage, ob die Medien, von wenigen Ausnahmen abgesehen, aufrichtig und wahrhaftig über die arabischen Länder berichtet haben. Es ist doch kaum vorstellbar, dass Arbeitslosigkeit, Unterdrückung, mangelnde Zukunftsperspektive, willkürliche Verhaftungen und Verfolgung politischer Gegner ganz plötzlich aus dem Nichts auftauchen, nur weil Hunderttausende Ägypter auf dem Tahrir Platz den Sturz des Friedensgaranten, Pardon, nein, des Diktators Mubarak fordern. Hat tatsächlich dreißig Jahre lang keiner der zahlreichen Korrespondenten in Kairo bemerkt, dass Mubarak ein übler Unterdrücker seines eigenen Volkes war und in die eigene Tasche gewirtschaftet hat? Und falls sie es doch gesehen haben, warum haben sie darüber nicht berichtet? Haben sie sich etwa geduckt und geschwiegen, um nicht verhaftet oder ausgewiesen zu werden?

Diese Frage stellt ein deutscher Korrespondent in Israel. Niemandem wird da ein Haar gekrümmt, wenn man den Staatspräsidenten als Frauenjäger und Vergewaltiger verunglimpft, zumal Mosche Katzav deswegen zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden ist. Selbst dem Regierungschef darf man ungestraft nicht nachgewiesene Korruptionsaffären vorwerfen. Bekanntlich musste Netanjahus Vorgänger Ehud Olmert zurücktreten. Sein Prozess läuft noch. Und glauben Sie mir, wie viel Spaß es mir macht, über Sarah Netanjahu zu berichten, die mal wieder eine Hausangestellte fristlos entlassen hat, weil sie die Suppe anbrennen ließ. Wenn ich in Syrien oder Libyen nachgefragt hätte, wie es den Hausangestellten der Assads oder des Ghaddafi ergeht, würde ich wahrscheinlich hier jetzt nicht stehen.

Auch sonst gibt es kaum ein Thema in Israel oder in den besetzten Gebieten, das nicht aufgegriffen und in alle Welt hinausposaunt werden darf. Kaum eine soziale Ungerechtigkeit, kaum ein Missstand, eine echte oder vermeintliche Menschenrechtsverletzung, wird nicht bis ins letzte Detail thematisiert. Und weil eben Israel eine echte Demokratie mit freier Presse ist, wird Israel genauer unter die Lupe genommen wird, als alle seine Nachbarn. So produziert Israel mehr als jedes andere Land Negativ-Nachrichten. Das ist alles auch gut zu und entspricht unseren Vorstellungen von Demokratie und Pressefreiheit. Dennoch sollten die Proportionen gewahrt bleiben. Natürlich macht es hämischen Spass, die gesammelten Schweinereien und Skandale ausgerechnet von Juden zu Papier zu bringen. Da kann man endlich aus dem Vollen schöpfen und vor allem zu dem vermeintlich mit ultraorthodoxen Stürmer-Juden gespickten Schweinebraten der rechtsextremistischen israelischen Regierung ausholen. Derartiges haben die arabischen Nachbarn Israels nicht zu bieten. Zynismus Ende.

Ein langjähriger Israel-Korrespondent hatte mal die Nase voll vom Nahostkonflikt und suchte sein Glück im kanadischen Ottawa. Nach einigen Monaten stellte er fest, dass die gleichen Skandälchen, die in aller Welt Schlagzeilen machen, wenn sie aus Israel kommen, niemanden interessieren, wenn sie in Ottawa passieren. Der Kollege musste nach Deutschland zurückkehren, wo er sich damit profiliert, achtzigjährige chronische Kritiker der israelischen Regierung zu interviewen, um seinem Publikum die vermeintlich wahre Meinung der sogenannten schweigenden Mehrheit der Israelis zu präsentieren.

Vermutlich ahnen Sie, wen ich meine. Es gibt da auch noch eine Tochter und eine mit dem Bundesverdienstkreuz ausgestattete Menschenrechtsaktivistin. Als Alibi-Juden verbreiten auch sie die wahre Meinung der schweigenden Mehrheit Israels aufrichtig und ehrlich.

Völlig unverständlich ist mir, wieso eigentlich die Mehrheit der Israelis bei demokratischen Wahlen neben der „rechtsnationalen“ Regierung des Netanjahu auch noch Zipi Livni gewählt hat. Livni stammt aus dem gleichen politischen Stall wie Netanjahu, nämlich dem Likud.

Die sogenannten fortschrittlichen und vermeintlich friedenswilligen Linksparteien hingegen mussten um die Hürde der Sperrklausel genauso kämpfen, wie hier in Deutschland die DKP. Ich frage mich, was man in Deutschland sagen würde, wenn CNN oder BBC immer wieder auf den typischen Repräsentanten der schweigenden deutschen Mehrheit zurückgreifen würden. Zum Beispiel Horst Mahler.

Ein in Deutschland sehr populärer jüdisch- israelischer Interviewpartner mit viel Einfluss auf die öffentliche Meinung in Deutschland hat mir mal lachend eingestanden, dass seine Anhänger in Israel Platz in einer Telefonzelle hätten.

Als es darum ging, dass tausend Israelis sich bei der Deutschen Botschaft einen deutschen Pass abholen, weil der ihnen zusteht, war der Tenor in der Berichterstattung hier, dass diese Israelis in Torschlusspanik sich rechtzeitig ins Ausland absetzen wollen, weil Israel doch bald zerstört werde, wegen der Siedlungspolitik oder wegen der iranischen Bombe. Dass auch Israelis die Vorzüge eines EU Passes genießen wollen, kommt da nicht in den Sinn. Und dass sechs Millionen jüdische Israelis keinen deutschen Pass erhalten, wird auch vergessen.

Ich möchte bei der Gelegenheit eine andere Frage in den Raum stellen. Anwar el Sadat war 1973 davon überzeugt, dass Israel die Atombombe besitze. Sadat glaubte, dass Israel unbezwingbar sei. Deshalb hat sich Sadat für einen Friedensschluss mit Israel entschieden. Ob Israel tatsächlich die Atombombe besitzt oder nicht, weiß ich nicht. Offiziell ist es nie bestätigt worden. Aber Israel dementiert es auch nicht, weil es von der Abschreckung profitiert, solange alle arabischen Staaten glauben, dass Israel echte Bomben und nicht nur Attrappen im Keller lagert.

Neu für Sie ist vielleicht, dass die arabischen Staaten relativ gelassen auf die sich mehrenden Indizien über die israelische Atombombe reagieren. Offenbar weil sie Israel für einen vernünftigen Staat halten. Doch sie reagieren geradezu panisch und bewaffnen sich bis an die Zähne wegen der mutmaßlichen iranischen Atombombe. Dies nur als Stoff zum Nachdenken.

Wie falsch und tendenziös berichtet wird, sieht man am besten anhand des größten Freiluftgefängnisses, dem Gazastreifen, mitsamt offener Grenze zu Ägypten. Es ist das „dichtest besiedelte Territorium“ der Welt. Völlig korrekt, wenn man Macau, Monaco, Hongkong und Singapur außen vor lässt. Mit 4.600 Einwohnern pro Quadratkilometer steht der Gazastreifen an fünfter Stelle auf der Weltliste, noch vor Gibraltar und gefolgt vom Vatikanstaat.

Wie jämmerlich die Gesundheitsversorgung im Gazastreifen ist, kann man anhand offizieller Statistiken zur Kindersterblichkeit ablesen. Gaza steht auf Platz 17 zwischen Mexiko und Bulgarien. Die Kindersterblichkeit ist in Gaza jedenfalls deutlich niedriger als in Libyen, Ägypten, Algerien, Tunesien, dem EU Kandidaten Türkei, Marokko, Indonesien, Irak, Iran, Indien und Jemen. Nein, ich will die Zustände im Gazastreifen nicht schönreden. Es geht mir nur um die Proportionen.

Entweder verstehe ich die Welt nicht mehr, oder aber die Welt legt sich ihre Meinung nach Gutdünken zurecht, gemäß dem Prinzip: Stör mich nicht mit Fakten.

Abschließend noch ein Wort zu Gilad Schalit. Selbst manche Araber bemerkten verschreckt: Ist etwa ein Jude/ein Israeli so viel wert wie tausend Araber?

Der Gefangenenaustausch bedeutet, dass selbst Massenmörder nach kurzer Haft wieder frei kommen. Exakt 926 lebenslängliche Haftstrafen, jeweils für eine Mordtat, bleiben ungesühnt. Nach Angaben von Ahmad el Dschabri von der Hamas seien 596 Israelis getötet worden. Die Diskrepanz ist logisch, denn in einigen Fällen von Anschlägen erhielten der Planer, der Bombenbauer und der Fahrer des Selbstmordattentäters jeweils ein lebenslänglich für jeden Toten. Diese verurteilten Mörder wurden jetzt von der Hamas in Gaza als „Kulturhelden“ bejubelt. Kindermörder als Kulturhelden. Das sollten wir Deutsche uns mal auf der Zunge zergehen lassen. Bei aller berechtigten Freude über die Freilassung von Gilad Schalit ist dies ein Punkt, der im Westen überhaupt nicht beachtet oder gar kritisiert worden ist. Das Freipressen rechtskräftig verurteilter Häftlinge bedeutet, dass die Hamas jegliche rechtsstaatliche Grundsätze außer Kraft setzen darf. So wird Mord legitimiert und niemanden scheint das in Europa zu stören. Wer dazu schweigt, meint wohl, dass es legitim ist, Schulbusse und Restaurants mitsamt Kindern und Frauen zu sprengen, solange diese Taten „politisch motiviert“ sind. Nicht Israel ist hier zu kritisieren, sondern jene, die nun ein Ende der Gaza-Blockade, einen Dialog mit der Hamas, deren Anerkennung und vieles mehr fordern, weil sich doch die Hamas als „gemäßigt“ und „pragmatisch“ erwiesen hat…

Ulrich W. Sahm

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Das Israel-Journal 2011

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